Manfred Stange (Hrsg.): Ulrich Boner – Der Edelstein
Wir sind in Bern, irgendwann um die Mitte des 14. Jahrhunderts: Dort sitzt Ulrich Boner, Mönch im Orden der Dominikaner und Freund des Johann von Ringgenberg – dem er eine Fabelsammlung zu widmen gedenkt. Eine gereimte Belehrung zu besserem Lebenswandel, könnte man sagen. Ganz, wie es einem Mönch gut zu Gesichte steht.
Weil Ulrich nun aber ein weltläufiger Mensch ist, und zudem auf seine Bildung stolz, werden es am Schluss 100 Fabeln sein, die sich vor allem im 14. und 15. Jahrhundert größter Beleibtheit erfreuen. Denn Boners Buch gehört mit zu den ältesten gedruckten deutschen Büchern überhaupt. Und auch im Bretten des Jahres 1504 waren die vielschichtigen Fabeln sicherlich im Bewusstsein der Menschen verankert.
Es sind Fabeln über Mord und falsche Schönheit, über Verleumdung und freundliche Geschenke – eben die ganze Bandbreite des Alltags, verpackt in „feine Reime“. Wie das Beispiel von den „DRÎN GESELLEN, WÂREN KOUFLIUTE“, einer Fabel, die „Von kundiger einvaltekeit“, also der „klugen Einfalt“ dreier Kaufmannsgesellen erzählt:
Drî gesellen kâmen über ein,
daz ez solt allez sîn gemein,
ir zerung und ir spîse guot;
dar ûf sô stuont ir drîer muot.
5 si wâren über ein des komen,
daz si schaden unde vromen
söltin mit einander hân.
Natürlich wirkt die typische Sprache jener Zeit mitunter recht sperrig. Doch merkt man rasch, dass das Lesen mit ein wenig Übung auch für ungeübte Augen, die sonst eher am Bildschirm oder am Smartphone kleben, leichter wird. Für alle Fälle gibt der Herausgeber Manfred Stange nämlich stets eine vollständige Prosaübersetzung bei, die auf der rechten Doppelseite parallel läuft:
Drei Burschen kamen überein,
daß sie alles miteinander teilen sollten,
ihre Aufwendungen und ihre gesunde Ernährung;
darin waren sie sich einig.
5 Sie waren (auch) darin überein gekommen,
Schaden und Nutzen
gemeinsam zu tragen.
Klar, die Übersetzung in heutige Sprache holpert im Vergleich zur Geschmeidigkeit des Originals ein wenig – aber gerade deshalb spürt man rasch, mit welcher Liebe zum geschriebenen und gesprochenen Wort Ulrich im 14. Jahrhundert zu Werke ging. Dieser ersten, in sich geschlossenen mittelhochdeutschen Fabelsammlung deshalb den Beinamen „Der Edelstein“ zu verpassen, das hat also durchaus seine Berechtigung. Zumal es Boner nicht um dröge Morallehre geht, sondern um die lebendige Vermittlung pragmatischer Lebensregeln für jedermann: „Dar umb list man ein bîschaft“ (also eine Fabel) guot, daz wîser werd des menschen muot“ schreibt er selbst in seinem Epilog: „Man liest deswegen eine gute Fabel, damit der Mensch in seinem Innern weiser werde.“ Eben!
Leichter wird dies ab sofort durch die im Verlag Regionalkultur erschienene, zweisprachige Ausgabe, die den bis heute gültigen, indes seit 1844 vergriffenen Standardtext Boners erstmals in einer vollständiger Übersetzung bietet: Anmerkungen, Nachwort, Literaturverzeichnis, Register und etliche Abbildungen farbiger Handschriften-Illustrationen gehören natürlich dazu. Weitere Abbildungen finden sich heute auch im Netz, hat doch beispielsweise die „Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel“ ihr eigenes Exemplar von 1461 als Digitalisat der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt – der Link findet sich unten in den Buchdaten.
Vorsicht jedoch beim Durchblättern oder -klicken der einzelnen Seiten: Ruckzuck hat man die Zeit vergessen, so lebendig und anschaulich sind die verschiedenen Blätter. Aber das hatte vermutlich schon Ulrich Boner im Sinn. Damals in Bern, irgendwann um die Mitte des 14. Jahrhunderts …
Manfred Stange (Hrsg.): Ulrich Boner – Der Edelstein. Verlag Regionalkultur Ubstadt-Weiher 2016, 440 Seiten, gebunden, 16 farbige Abbildungen, ISBN 978-3-89735-897-3, 34,80 Euro.
Im Besitz der „Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel“ findet sich die Bamberger Ausgabe von 1461, die digital verfügbar ist: „[E]Ins mals ein affe kam gera[n]t. Do er vil guter nusse vant. Der hette er gesse[n] gerne. ... / Ulrich Boner. - [Online-Ausg.]. - Bamberg : [Pfister], [14.II.1461]
Heiko P. Wacker